Liebe Naturfreunde,
mir ist mal wieder ein ungewöhnliches Thema förmlich vor die Füße gefallen.
Funddaten: Deutschland, Schleswig-Holstein, Kreis Segeberg, Norderstedt, Wohnsiedlung, 29. Oktober 2016
Größe: 5 mm
Gestern nachmittag entdeckte ich auf der Papiermülltonne vor dem Haus ein kleines Etwas - huch, das ist doch eine Hirschlausfliege! Ich habe zwar noch niemals eine Lausfliege gesehen, wohl mal im Internet, aber die Lausfliege hat sich sofort in meinen Kopf gedrängelt. Schnell die Kamera geholt, aber es war schon zu schummerig. Aber das Tier stellte sich nicht nur tot, es war richtig tot, und so konnte ich es eindosen und heute vormittag bei bestem Licht zwei neue Bilder anfertigen.
Schon gestern habe ich das Stück unters Bino gelegt und war bass erstaunt, was für ausgeprägte Klauen und extrem kräftige Oberschenkel das Tier hat. In der Vergrößerung wurde auch erkennbar, dass nicht nur die Beine stark und lang bedornt sind, sondern auch der Thorax und der Hinterrand des Schildchens. Wirklich ausgesprochen faszinierend. So richtig toll kommt das auf meinen beiden Bildern eigentlich nicht heraus:
Hirsch-Lausfliege - Lipoptena cervi
Was mit bloßem Auge nicht erkennbar war, die Kamera deckt es auf: Da sind lauter Fasern auf dem Tier, die habe ich heute in mühsamer Feinarbeit unter dem Bino entfernt. Und gegoggelt habe ich natürlich auch. Angefangen mit einem Tante-Wiki-Artikel über Lausfliegen im Allgemeinen.
Systematisch gehören die Lausfliegen zur Ordnung der Zweiflügler (Diptera), Unterordnung Fliegen (Brachycera) und dann geht's direkt zur Familie der Lausfliegen (Hippoboscidae). Fliegen haben nur zwei Flügel und zwei "ehemalige" Hinterflügel, die als Gleichgewichtsorgan dienen, stielförmig wie eine Stecknadel mit Glaskopf sind und Schwingkölbchen genannt werden (oder auch Halteren). Diese Halteren habe ich unter dem Bino auch gefunden.
Die Lausfliegen haben ja eine interessante Biologie. Manche Arten leben wirtspezifisch. Es gibt Männchen und Weibchen. Wenn die Tiere einen passenden Wirt gefunden und angeflogen haben, dann werfen sie die Flügel ab, diese brechen an einer Sollbruchstelle. Danach müssen sie wegen ihrer Flugunfähigkeit auf dem Wirt verbleiben. Und den piesacken sie, indem sie Blut saugen. Nach der Paarung gebiert das Weibchen fertig entwickelte Larven, die sich auf den Boden fallen lassen und verpuppen.
Bei Tante Wiki sind nur 4 Arten verlinkt:
Hirsch-Lausfliege - Liptoptena cervi - lebt an Hirschen, Dachsen, Wildschweinen
Pferde-Lausfliege - Hippobosca equina - lebt an Pferden, Rinder, Hunde, Hirschen und Kamelen
Mauersegler-Lausfliege - Crataerina pallida - lebt an Mauerseglern und Schwalben.
Tauben-Lausfliege - Pseudolynchia canariensis - lebt nur an Vögeln, u.a. Tauben
Nicht verlinkt auf eine Artseite ist dort die Kleine Reh-Lausfliege Liptoptena fortisetosa. Die asiatische und osteuropäische Art wurde 1993 erstmal in Deutschland nachgewiesen 1), ist aber viel kleiner als die Hirsch-Lausfliege.
Die Bildersuche bei diptera.info in der Galerie zu Hippoboscidae war nicht besonders ergiebig. Einige Arten passten überhaupt nicht, die größte Übereinstimmung nach Foto blieb zunächst die Hirsch-Lausfliege.
Aber: Wie kommt eine Hirsch-Lausfliege auf den Deckel meiner Papiertonne? Zumal es am Vortage recht windig war, die kann erst kurz dort gelegen haben. Das kann doch nicht angehen, hier ist kein richtiger Wald in der Nähe, Hirsch, Dachs und Wildschwein kommen in einer Reihenhaussiedlung einfach nicht vor. Auch keine Pferde, Rinder oder Kamele. Hunde schon, aber die klettern nicht auf eine Papiertonne. Aber Amseln, Kohlmeise und Blaumeise hocken dort schon mal, wenn sie im Vorgarten auf Nahrungssuche sind.
Da schien mir der Ansatz, dass es eine an Vögeln lebende Hirschlaus-Art sein könnte, schon naheliegender.
Da habe ich auch eine interessante Publikation gefunden: Zur Lausfliegenfauna (Diptera: Hippoboscidae) der Vögeln in der Bundesrepublik Deutschland. Walter, Kasparek & Tschirnhaus, 1990. 2)
Die Autoren stellen die wenigen, in Deutschland nachgewiesenen Lausfliegen-Arten vor und auf welchen Vogelwirten sie gefunden wurden. Ich habe mich auf die Vogelarten konzentriert, die hier gelegentlich auf der Tonne hocken.
1. Mauersegler-Lausfliege - Crataerina pallida, an Mauerseglern und Schwalben. Die habe ich sofort aussortiert. Mauersegler gibt es hier zwar, aber sie fliegen nicht mehr. Und Schwalben gibt es hier gar nicht.
2. Gemeine Vogel-Lausfliege - Ornithomya avicularia, häufigste Art an Vögeln, an Rotkehlchen, Amsel, Kohlmeise
3. Finken-Lausfliege - Ornithomya fringillina, an Rotkehlchen, Blaumeise, Kohlmeise
4. Rauchschwalben-Lausfliege - Ornithomya biloba, an
2-4 sind bei diese drei sind bei Kasparek abgebildet und haben einen fast quadratischen Hinterleib - passen nicht.
Ornithomya chloropus - an Zugvögeln, nur 2 x in Deutschland nachgewiesen (Bodensee und Helgoland). Nun ja, Zugvögel kommen bei uns öfter mal vorbei, wir liegen ziemlich auf der Zugroute von Nord nach Süd.
Ornithophila metallica - an Zugvögeln, ein Fund an Rauchschwalbe. Hier gibt es keine Schwalben.
Stenepteryx hirundinis = an Schwalben-Arten, Hinterleib dreieckig, passt nicht, und Schwalben gibt es hier nicht.
Ich kann es drehen und wenden wie ich will: Wenn nichts passt, dann bleibt immer noch nur die Hirsch-Lausfliege.
Als letzte Lausfliegen-Art wird in der Arbeit von Walter et. al. die Hirschlausfliege genannt, die zweimal in Essen an Kohlmeisen nachgewiesen wurde. Und in beiden Fällen hatten die Lausfliegen noch nicht die Flügel abgeworfen. Ja, kann es denn wahr sein? Sollte das hier vielleicht auch der Fall gewesen sein? Ein Flügel war ab, einer noch dran.
Sollte jemand bis hierher durchgehalten haben, den erwartet in den nächsten Wochen noch ein Schmankerl. Ein Bekannter von mir hat sich bereit erklärt, gestackte Fotos mit dem Mikroskop von dem Tier zu machen. Seine Mikroskop-Fotos sind vom allerfeinsten. Darauf freue ich mich schon richtig. Und dann geht das nochmal durchs Dipterenforum, aber da wird sicher auch nichts anderes herauskommen als die Hirsch-Lausfliege. Bei Fliegen ist ja die Aderung der Flügel ein wichtiges Bestimmungskriterium: die Hirsch-Lausfliege hat drei Queradern, die hier gerade noch erkennbar sind.
Ich habe ganz viel gelernt an diesem Wochenende.
Literatur
1) Erstnachweis von Lipoptena fortisetosa MAA, 1965 in Deutschland (Dipt., Hippoboscidae). SCHUMANN & MESSNER, 1993. Entomologische Nachrichten und Berichte, 37, 1993/4, 247-249.http://www.zobodat.at/pdf/EntBer_37_0247-0249.pdf
2) Zur Lausfliegenfauna (Diptera: Hippoboscidae) der Vögel in der Bundesrepublik Deutschland. WALTER, KASPAREK & TSCHIRNHAUS, 1990.
http://www.kasparek-verlag.de/MaxKasparek/PD…ppobosciden.pdf
3) Online Identification Keys - Northwestern European Hippoboscidae. Sprache Engllisch.
http://www.online-keys.net/infusions/keys…t.php?key_no=12